Wie drei Somalier mit professioneller Hilfe das neue deutsche Grenzregime überlisteten

Einzelfall oder Grundsatzentscheidung? Das Verwaltungsgericht Berlin hat Zurückweisungen hinter der deutschen Grenze für rechtswidrig erklärt. Die Bundesregierung hält aber an ihrer Politik fest. Nun kommt es auch darauf an, wie weitere Gerichtsentscheidungen ausfallen.

Fatina Keilani, Berlin 5 min
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Deutschland hat die Notwendigkeit erkannt, die Grenzen besser zu schützen.

Deutschland hat die Notwendigkeit erkannt, die Grenzen besser zu schützen.

Daniel Kubirski / Imago

Am Montag entschied das Verwaltungsgericht Berlin im Eilverfahren über den ersten Zurückweisungsfall an der deutsch-polnischen Grenze seit Inkrafttreten der neuen deutschen Grenzpolitik. Seither stellt sich die Frage, was diese Entscheidung praktisch bedeutet.

Drei junge Somalier waren über Weissrussland und Litauen in die EU gelangt. Am 9. Mai überquerten sie bei Frankfurt an der Oder mit der Bahn die Grenze nach Deutschland. Die Bundespolizei kontrollierte die drei auf deutschem Boden und wies sie zurück nach Polen als sicherem Drittstaat.

Alle drei zogen dagegen vor Gericht und bekamen recht: Sie haben Anspruch auf Einreise und auf ein Dublin-Verfahren, entschied die sechste Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin in drei Eilbeschlüssen. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie auch Anspruch auf ein Asylverfahren haben – obwohl es darauf wahrscheinlich hinauslaufen wird, denn die drei wurden trotz einer Reise durch mehrere Länder nirgends registriert. Das Dublin-Verfahren ist nur dazu da, zu klären, wer für das Trio zuständig ist.

Der Fall hat viele Besonderheiten und wirft Fragen auf. Zum einen wanderte die Zuständigkeit vom Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder zu dem in Berlin, weil hier die Bundespolizeidirektion sitzt. In Berlin wurde der Fall von der Einzelrichterin wegen «grundätzlicher Bedeutung» an eine Kammer abgegeben. Die zunächst adressierte 28. Kammer, die laut Geschäftsverteilungsplan für das Herkunftsland Somalia zuständig ist, erklärte sich für unzuständig, weil noch kein Asylantrag gestellt war, und so landete der Fall bei der sechsten Kammer unter dem Richter Florian von Alemann, der laut Medienberichten Mitglied bei den Grünen sein soll.

Die Anwälte für die Somalier wurden von der Nichtregierungsorganisation «Pro Asyl» gestellt. Manche Beobachter vermuteten eine konzertierte Aktion der Asyllobby mit dem Ziel, die neue deutsche Grenzpolitik möglichst schnell zu beenden. Richter Alemann befasst sich seit Jahrzehnten beruflich und privat mit dem Asylrecht. Er sieht die Politik des Bundeskanzlers Friedrich Merz kritisch.

«Vulnerabel» und minderjährig – die Eintrittskarte

Nicht auszuschliessen ist, dass die drei Antragsteller in dem Fall zu politischen Zwecken instrumentalisiert wurden. Es war bereits ihr dritter Versuch, nach Deutschland zu reisen. Die ersten zwei scheiterten – bei diesen hatten sie kein Asyl geltend gemacht. Beim dritten Versuch glückte die Einreise per Bahn. Anders als bei den beiden ersten Versuchen machte die weibliche der drei Personen nun geltend, minderjährig und krank zu sein. Das war vorher nicht der Fall und passt strategisch gut mit dem Inhalt von Alexander Dobrindts Weisung zusammen.

Direkt nach seinem Amtsantritt hatte nämlich der christlichsoziale neue Innenminister eine Weisung des früheren Innenministers Thomas de Maizière aufgehoben und Artikel 18 Absatz 2 des Asylgesetzes wieder in Kraft gesetzt, der vorsieht, Ausländern die Einreise zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kommen.

Asylzahlen im Jahresverlauf

Asylanträge in Deutschland (in Tausend)
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In seinem Schreiben an den Chef der Bundespolizei Dieter Romann findet sich der Satz, «erkennbar vulnerable Personen» könnten weiterhin an Erstaufnahmeeinrichtungen weitergeleitet werden. Der Verdacht ist also, ob – womöglich mit sachkundiger Hilfe – hier eine «vulnerable Person» quasi geschaffen wurde, um die Einreise zu erzwingen. Unmittelbar nachdem die Weisung erteilt war, hatte Pro Asyl ein Team an die deutsch-polnische Grenze entsandt.

Die NGO «Pro Asyl» hat Profis vor Ort und stellt Anwälte

Gemeinsam mit polnischen Partnerorganisationen kümmerte man sich um das Mädchen: versorgte die Wunden, organisierte ärztliche Betreuung und ein Hotel – und brachte sie in Kontakt mit einer Anwältin. Die Helfer in Polen stellten sicher, dass die junge Frau ihre Rechte kannte, und ermöglichten ihr schliesslich, am 9. Mai erneut einen Asylantrag zu stellen – diesmal gut dokumentiert. Als erneut zurückgewiesen wurde, war man vorbereitet: Bereits fünf Tage später lag der Eilantrag beim Gericht.

Alle Faktoren zusammen bewirkten die Entscheidungen vom 2. Juni. Das Gericht folgt darin der Argumentation von Pro Asyl und besteht auf dem Anwendungsvorrang des europäischen Rechts gegenüber dem deutschen Asylrecht. Das deutsche Argument einer Notlage im Sinne des Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU verfange nicht, zumal dazu nicht hinreichend vorgetragen worden sei.

Diesen Hinweis griff Dobrindt auf: Dann werde man künftig das Vorliegen einer Notlage stichhaltig begründen. Die Regelung aus Art. 72 bietet den Hebel, im Interesse der nationalen Sicherheit das nationale Recht anzuwenden und den Vorrang des EU-Rechts auszusetzen. Darin liegt vermutlich die einzige Chance Deutschlands, die Pflichten der Dublin-Verordnung zu umgehen. Sie bringt für Deutschland Nachteile – maximale Bürokratie, minimale Entlastung.

Die Bundesregierung will die Notlage besser begründen

Sich im geeinten Europa auf nationales Recht zu stützen, ist nur möglich, wenn es nicht anders geht. In Artikel 72 AEUV heisst es: «Dieser Titel berührt nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.»

Mit anderen Worten: Auch wenn EU-Recht grundsätzlich Vorrang hat, ist doch jeder Mitgliedstaat selbst für seine innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung zuständig. Der Artikel stellt sicher, dass Interessen der nationalen Sicherheit nicht vollständig an die EU übertragen werden. Ihn anzuwenden, bedarf einer stichhaltigen Begründung.

Zu den weiteren Fragen des Falles gehört die nach den geopolitischen Implikationen. Die drei Somalier kamen über Weissrussland und Litauen in die EU. Seit 2021 nutzt der weissrussische Machthaber Lukaschenko Migranten gezielt als politisches Druckmittel gegen die EU. In Absprache mit Moskau werden Menschen aus Krisenregionen nach Weissrussland gebracht und dann Richtung Polen, Litauen und Lettland geschleust. Diese Taktik – oft als hybride Kriegsführung bezeichnet – soll Europa destabilisieren.

Migration als Waffe im hybriden Krieg

Die EU hatte auf diese «Waffe Migration» mit scharfer Rhetorik und verstärkter Grenzsicherung reagiert. In einer Kommissionsmitteilung vom Dezember 2024 (COM(2024) 570) wird detailliert beschrieben, wie Russland und Belarus Migration als Hebel einsetzen, und wie die EU ihre Aussengrenzen dagegen wappnen will.

Darauf berief sich auch die Bundespolizei: Weil die Somalier über Weissrussland kamen, seien sie Teil von Lukaschenkos Strategie und dürften deshalb – in Anlehnung an die Kommissionsmitteilung – an der Grenze abgewiesen werden. Zumal es ein bemerkenswertes Missverhältnis zwischen der hohen Zahl der Asylanträge in Deutschland und der geringen Zahl der Eurodac-Treffer gebe. Mit anderen Worten: Andere Staaten lassen die Migranten einfach nach Deutschland weiterreisen, ohne sie zu registrieren. Die drei Somalier waren nach eigenen Angaben auch nirgends registriert worden. Im Ergebnis könnte nun also tatsächlich Deutschland für sie zuständig sein.

Die Bundesregierung will ihre neue Zurückweisungspolitik fortsetzen und sieht den Fall als «Einzelfall». Dagegen spricht allerdings die Einstufung des Gerichts als Sache von «grundsätzlicher Bedeutung». Das Gericht hat ausdrücklich nicht über die Frage entschieden, ob die Zurückweisungen an der Grenze rechtmässig sind, da der Fall hinter der Grenze, also auf deutschem Boden spielt. Sehr wahrscheinlich sind NGOs wie Pro Asyl bereits damit beschäftigt, auch Gerichtsentscheidungen zu dieser Frage herbeizuführen. Auf eine entsprechende Anfrage bei Pro Asyl erhielt die NZZ keine Antwort.