Das Vorgehen erinnert an Putins Diktatur in Russland: Bei den Oberbürgermeisterwahlen in Ludwigshafen am vergangenen Sonntag durfte erstmals ein oppositioneller Kandidat nicht antreten. Die Wahlkommission der zweitgrössten Stadt von Rheinland-Pfalz hatte den Landtagsabgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD), Joachim Paul, nicht zugelassen. Über 70 Prozent der Wahlberechtigten blieben daraufhin der Wahl fern, und mehr als 9 Prozent der verbliebenen Wähler machten ihren Wahlzettel ungültig – die Abstimmung geriet zur Farce.

Die Wahl in Ludwigshafen bedeutet eine Zäsur in der über 75-jährigen Demokratiegeschichte der Bundesrepublik. Erstmals wurde einem Oppositionspolitiker aufgrund eines Geheimdienstdossiers das passive Wahlrecht aberkannt. Amtsinhaberin Jutta Steinruck (bis 2023 SPD) hatte sich in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der Wahlkommission im Juli an das SPD-geführte Innenministerium gewandt und um eine Einschätzung der Verfassungstreue des AfD-Bewerbers gebeten. Auf elf Seiten hatte der Abteilungsleiter Verfassungsschutz daraufhin «die aus Sicht des Verfassungsschutzes relevanten offenen und gerichtsverwertbaren Erkenntnisse» übermittelt.

 

«Meinungsfreiheit ist kein Freibrief»

Das Dossier ist ebenso trivial wie erschreckend. «Am 18. und 19. Oktober 2024 lud Joachim Paul zu einem Bücherbasar im ‹Quartier Kirschstein› ein», berichtete der Ministerialbeamte zum Beispiel der Oberbürgermeisterin. «Dort stellte unter anderem das Chemnitzer ‹Antiquariat Zeitenstrom› diverse rechte Literatur aus.» Der AfD-Abgeordnete habe zudem die Landesregierung kritisiert, «da sie sich seiner Meinung nach nicht bemüht habe, sich in Bezug auf die Neuverfilmung der Nibelungensage mit Rheinland-Pfalz als Drehort in Szene zu setzen». Auch einen Text Pauls über das Buch «Der Herr der Ringe», in dem dieser die konservative Geisteshaltung des Autors hervorhob, führte der Chef des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes ins Feld.

Der Ausschluss des AfD-Politikers von der Wahl in Ludwigshafen wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Demokratie in Deutschland. Im «Kampf gegen rechts» werden demokratische Grundregeln immer häufiger ausser Kraft gesetzt. Das im Grundgesetz verankerte Recht, «seine Meinung frei in Wort, Schrift und Bild zu äussern und zu verbreiten», wird ausgerechnet vom Verfassungsschutz torpediert. Entgegen Artikel 21 des Grundgesetzes wird die grösste Oppositionspartei zudem systematisch von der politischen Willensbildung ausgeschlossen.

Nicht nur der Geheimdienst von Rheinland-Pfalz, auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat in den letzten Jahren zum politischen Aufseher über die Bürger mutiert. Nach dem Rauswurf des konservativen Amtschefs Hans-Georg Maassen hat der Dienst die Überwachung der öffentlichen Kommunikation grossflächig ausgebaut. Seit 2021 betreibt das BfV unter anderem einen eigenen Arbeitsbereich «Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates». Die Meinungsfreiheit sei «kein Freibrief für Verfassungsfeinde», begründete Maassens Nachfolger Thomas Haldenwang 2024 diese Politik. «Wir sind politisch neutral, aber nicht gegenüber denen, die gegen unsere freiheitliche Demokratie agieren und agitieren», drohte er in einem Zeitungsbeitrag.

Angetrieben von der früheren Innenministerin Nancy Faeser (SPD), hat sich das BfV Schritt für Schritt zu einer Art Gesinnungspolizei entwickelt. Anonyme Beamte, die den Weisungen des Ministers unterliegen, entscheiden, ob jemand gegen die freiheitliche Demokratie «agiert» oder nur die Regierung kritisiert. Exemplarisch studieren kann man dies am Gutachten des BfV über die AfD, das Faeser im April an ihrem letzten Arbeitstag freigab. Der Verfassungsschutz stuft die Partei darin als «gesichert rechtsextremistische Bestrebung» ein – was ihn angeblich «nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet», die AfD deutschlandweit zu überwachen.

Zur Begründung dokumentiert das Gutachten auf 1108 Seiten mehr als 3000 Äusserungen von Mitgliedern und Funktionären der Partei. Tweets und Facebook-Beiträge werden von den Beamten ebenso als Belege für verfassungsfeindliche Bestrebungen angeführt wie Wahlkampfreden und Interviews. Auch ein Interview mit AfD-Chef Tino Chrupalla im Youtube-Kanal der Weltwoche findet Erwähnung. Die überwiegend harmlosen Äusserungen, die früher als Stammtischparolen abgetan worden wären und allesamt vom Grundrecht auf freie Meinungsäusserung gedeckt sind, werden zu staatsgefährdenden Angriffen auf die verfassungsmässige Ordnung aufgebauscht.

Als «rechtsextremistisch» stuft der Verfassungsschutz zum Beispiel die Forderung der AfD in Sachsen ein, den Anteil nichtdeutschsprachiger Kinder in Kindergartengruppen auf 10 Prozent zu begrenzen. Die Förderung des Spracherwerbs sei zwar «grundsätzlich ein zulässiges Ziel», räumen die Beamten ein. Die Begrenzung führe jedoch wegen des bundesweiten Betreuungsnotstands dazu, dass ein Grossteil der Kinder mit Migrationsgeschichte keinen Zugang zu Kindertagesstätten hätte. «Eine derartige Unterteilung führt zu einer Ungleichbehandlung von Kindern im Kita-Alter, die an ihre Ethnie anknüpft und damit menschenwürdewidrig ist.»

In ähnlicher Weise geht das BfV mit vielen Äusserungen zur Migrationspolitik ins Gericht. Hashtags wie «hFestungEuropa» oder «hMasseneinwanderungstoppen» führt das Amt ebenso als Beleg für vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit an wie Kritik an den Plänen für eine Migrantenquote bei Behördenmitarbeitern und Bundesgerichten. Meinungsäusserungen zu Gruppenvergewaltigungen, Messermorden oder Massenschlägereien in Schwimmbädern sind nach Auffassung des BfV extremistisch, sobald sie auf die Zuwanderung aus bestimmten Ländern zurückgeführt werden.

 

Achtung, «Kartellparteien»

Wer zum Beispiel schreibt, bei den Tätern handele es sich überwiegend um Menschen aus dem arabischen Raum, verstösst damit laut BfV gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt. So heisst es über einen Facebook-Eintrag der AfD-Abgeordneten Christina Baum: «Indem Baum die Gleichheit aller Menschen im Kontext mit der Häufigkeit der Begehung von ‹schweren Verbrechen› als ‹Märchen› bezeichnet, bringt sie zum Ausdruck, dass Menschen mit einer nichtdeutschen Herkunft häufiger zur Begehung entsprechender Taten neigten, und zwar – und das ist die aus verfassungsschutzrechtlicher Sicht relevante Komponente – aufgrund ihrer Herkunft.»

Selbst wer das Wort «Volk» benutzt, um Menschen mit gemeinsamer Sprache und Geschichte zu bezeichnen, verstösst damit nach Auffassung des BfV gegen das Grundgesetz. «Mit einer solchen Vorstellung ist sachlogisch verbunden, dass deutschen Staatsangehörigen, die aufgrund ihrer Zuwanderungsgeschichte nicht dem ethnisch definierten Volk angehören, die Anerkennung als gleichberechtigte bzw. gleichwertige Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft versagt werden soll», lautet die Begründung. Demnach wäre auch der Schriftzug am Gebäude des Bundestags, «Dem deutschen Volke», verfassungswidrig.

Als «rechtsextremistisch» geisselt das Gutachten zudem zahlreiche kritische Äusserungen über die etablierten Parteien. Wer beispielsweise CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke als «Kartellparteien» bezeichnet, da sie die AfD einmütig von der politischen Mitwirkung ausschliessen, steht angeblich nicht mehr auf dem Boden der Verfassung. Extremistisch sei auch die Forderung des sächsischen Landtagsabgeordneten Norbert Mayer, die «Altparteien-Mafia» abzuwählen, da es das Grundgesetz verbiete, «anderen Parteien die Daseinsberechtigung abzusprechen». Wenn diese «in ihrer Gesamtheit als politische Dilettanten und Verräter beschimpft und verächtlich gemacht werden», handele es sich um verfassungsfeindliche Bestrebungen.

Nicht viel anders reagiert der Geheimdienst auf Kritik an den etablierten Medien, die viele Bürger als linkslastig und regierungsnah empfinden. Dem sächsischen Bundestagsabgeordneten René Bochmann wirft das Gutachten zum Beispiel vor, «die deutsche Medienlandschaft insgesamt» zu diffamieren, weil er auf Facebook dafür eintrat, «sich von den Systemmedien abzuwenden, hin zur Realität». Auch Vorwürfe, die Regierenden würden die Medien instrumentalisieren, verstiessen gegen das «Demokratieprinzip» – weil sie «in ihrer verunglimpfenden Pauschalisierung darauf ausgerichtet sind, demokratische Institutionen und Strukturen selbst fundamental in Frage zu stellen».

Die vielfach an den Haaren herbeigezogenen Argumente zeigen die Entschlossenheit des BfV, die AfD als verfassungswidrig zu etikettieren. Dies wiederum ist die Voraussetzung, um die Partei vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Bereits im vergangenen Jahr beantragten 113 Bundestagsabgeordnete, ein solches Verbotsverfahren einzuleiten und das Vermögen der Partei einzuziehen. Deutschland ist damit der einzige Staat in Europa, der seinen Geheimdienst gegen eine der auch in anderen Ländern entstandenen Protestparteien einsetzt.

Die Aktivitäten des Verfassungsschutzes richten sich aber nicht nur gegen die AfD. Seit einer Gesetzesänderung im Juli 2021 hat das BfV auch zahlreiche Einzelpersonen ins Visier genommen. Äussern sie sich in den sozialen Medien nach Meinung der Beamten verfassungsfeindlich, können sie im Wege des «Entschliessungsermessens» im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (Nadis) als Extremisten gespeichert werden.

Ein Beispiel dafür ist Haldenwangs Vorgänger Hans-Georg Maassen. Laut einem fünfzehnseitigen «Kurzvermerk» wurde das damalige CDU-Mitglied am 24. November 2023 vom BfV als «Rechtsextremist» registriert. Zur Begründung hiess es: «Dr. Maassen äussert sich spätestens seit 2019 in verfassungsschutzrelevanter Weise, wobei sich insbesondere seit 2022 eine deutliche Verschärfung sowie eine Erhöhung der Zahl entsprechender Äusserungen feststellen lässt.»

Als «verfassungsschutzrelevant» klassifizierte das Amt zum Beispiel diese Äusserung: «Trump ist für viele Amerikaner der Gegenentwurf zum woken Establishment, zu den linksglobalistischen Eliten an der Ostküste und an den Universitäten.» Angeblich griff Maassen damit «auf antisemitische Begrifflichkeiten und Formulierungen zurück». Als weiterer Beleg diente eine Rede, in der Maassen beklagte, dass man, egal, was man wähle, am Ende immer grüne Politik bekomme. Laut BfV verunglimpfte er damit «die Parteien, das Parteiensystem und die Bundesrepublik insgesamt als autokratisch und scheindemokratisch». Auch mehrere Artikel Maassens in der Weltwoche klassifizierte das Amt als verfassungsfeindlich.

Wie viele Bürger aufgrund ihrer öffentlichen Äusserungen als Extremisten gespeichert wurden, wollte das BfV auf Anfrage nicht mitteilen. Die Zahl dürfte jedoch mehrere zehntausend, vielleicht sogar über 100 000 betragen. Anfang 2025 war im Nadis-Speicher, ohne Sicherheitsüberprüfungen, mehr als eine halbe Million Menschen erfasst. Allein seit der Gesetzesänderung vor vier Jahren kamen über 50 000 hinzu. Zieht man die Anhänger extremistischer Zusammenschlüsse ab, bleiben mehr als 350 000 Einzelpersonen übrig, unter denen sich allerdings auch noch die Kontaktpersonen des Amtes befinden. 

 

Der Fall Maassen

Wer einmal als «Extremist» erfasst ist, für den ist eine Tätigkeit bei Bundeswehr, Polizei und in anderen sicherheitsempfindlichen Bereichen nahezu ausgeschlossen. Und eine Möglichkeit, den Eintrag rückgängig zu machen, gibt es praktisch nicht. Wenn man kein «besonderes Interesse» darlegen kann, erhält man nicht einmal Auskunft, ob und welche Daten über einen gespeichert sind.

Wie das BfV gegenüber Betroffenen verfährt, zeigt beispielhaft der Fall Maassen. Ein anwaltliches Anschreiben brachte das Amt ebenso wenig dazu, die Beobachtung einzustellen, wie eine Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht. Stattdessen bombardierte der Verfassungsschutz seinen früheren Chef mit über achtzig Seiten langen Schriftsätzen, die allein zermürbend wirken dürften. Hinzu kommen Anwaltskosten, die Maassen bereits jetzt auf mehr als 20 000 Euro beziffert. Und ein Verhandlungstermin ist nicht vor 2027 zu erwarten.

Mit seinem Verhalten agiert der Verfassungsschutz selber als Verfassungsfeind. Denn das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach festgestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung auch und gerade gegenüber dem Staat zum Kernbereich des Grundgesetzes gehört. «Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen», stellte es 2008 fest. Und drei Jahre später urteilte es: «Anders als dem einzelnen Staatsbürger kommt dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats.»

 

 

Hubertus Knabe arbeitet als Historiker und Stasi-Experte an der Universität Würzburg.

Mehr von dem täglich in Ihrer Mail-Box: