Medienkolumne

Wie man ARD & Co. für zwei Euro neu erfinden kann

Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen plädiert in seiner Streitschrift für einen neuen ÖRR. Für einen, der wenig kostet und bei dem der Bürger mitentscheidet.

Michael Meyen
Michael MeyenLandschaft des Wissens

Normalerweise fängt man eine Rezension beim Anfang an. Ich rutsche gleich zum Ende. Der letzte Satz von Michael Meyens kleiner Streitschrift „Staatsfunk“ geht so: „Wir könnten einen anderen Journalismus haben – und er würde (fast) gar nichts kosten.“

Dieser Satz ist Traum, Vision, Verheißung, Analyse und Provokation zugleich. Aufgeschrieben von einem Mann, der als Journalistikstudent in Leipzig die letzten Zuckungen der DDR-Propagandamaschine miterlebt hat und darauf folgend anderthalb Jahre Anarchie, während denen alles möglich schien. Diese Zeit, als das alte System abgedankt hatte, das neue aber noch nicht installiert war, lohnt es sich heute noch einmal anzuschauen. Vor allem Menschen aus der ehemaligen DDR spüren es: Eine nächste Wende steht bevor.

„ARD und Co. erlauben keine öffentliche Debatte“

Nirgends ist das anschaulicher als beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). Meyen schreibt: „Es braucht nur ein Körnchen Zweifel und ein paar Klicks, um die feinen Drähte zu sehen, die politische, wirtschaftliche und mediale Macht zusammenhalten.“ Ereignisse wie 9/11, „Wir schaffen das“, die Bankenrettung, #allesindenArm oder „Russland ruinieren“ haben die Zweifel in den vergangenen Jahren enorm wachsen lassen.

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten müssen unabhängig, sachlich, wahrheitsgemäß und umfassend berichten, heißt es in Paragraf 26 des Medienstaatsvertrages. Doch „ARD und Co. beschränken sich bei zentralen politischen Themen auf ‚offizielle‘ Positionen, blenden Widerspruch entweder aus oder werten ihn ab, erlauben so keine öffentliche Debatte, die diesen Namen verdient“, schreibt Meyen. Folglich verfehlt der ÖRR seinen Auftrag, für den wir ihn bezahlen.

Die Analyse dieser Zustandsbeschreibung bekommt nicht viel Platz im Büchlein des Professors der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zumal dazu an anderen Stellen schon ausgiebig publiziert worden ist. Ein paar Beispiele reichen ihm aus, allem voran die Corona-Berichterstattung, mit der die Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Mitte der Gesellschaft ankam.

Der Fokus des Buches liegt im Aufzeigen der strukturellen Verhältnisse, die erklären, warum der ÖRR keine objektive und unparteiliche Instanz ist. Dies hat laut Meyen hauptsächlich mit drei Faktoren zu tun: den Aufsichtsgremien, der Allokation des Geldes und den Angestelltenverhältnissen.

Wer kontrolliert den ÖRR?

Ob ARD und Co. ihren Auftrag erfüllen, dürfen „die entscheiden, um die es in den allermeisten Fällen geht: Regierungen, Parteien, Behörden, Verbände“. Sie schicken Vertreter, die in den Rundfunk- und Fernsehräten sitzen und den Sendern auf die Finger schauen sollen. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung dazu hat in diesem Jahr für viel Furore gesorgt: 42 Prozent der Rundfunkräte kann man „politischen Parteien zuordnen“. Bei den Verwaltungsräten, die die Geschäftsleitungen kontrollieren sollen, sind es gar 52 Prozent.

Ob ARD und Co. ihren Auftrag erfüllen, entscheiden Regierungen, Parteien, Behörden, Verbände.
Ob ARD und Co. ihren Auftrag erfüllen, entscheiden Regierungen, Parteien, Behörden, Verbände.Uli Deck/dpa

Auch der Anwalt einer Klägerin, die die 18,36 Euro Rundfunkbeitrag wegen Nichterfüllung des Auftrags nicht mehr zahlen wollte, hat sich diese Gremien genauer angesehen. Sein Fazit, das Meyen in seinem Buch zitiert: „samt und sonders ‚staatlich oder zumindest staatsnah‘“. Am 1. Oktober wird der Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig verhandelt.

Mit Blick auf den MDR schreibt Meyen: „50 Sitze für ‚gesellschaftlich bedeutsame Organisationen und Gruppen‘ (MDR-Staatsvertrag von 2021, § 16, Absatz 2) davon neun für die drei Landtage, aber keiner für die mit Abstand größte Oppositionspartei. Das muss man erst einmal schaffen und sich dann auch noch schönreden.“

Fast zwei Millionen für Markus Lanz

Die Gehälter der ÖRR-Intendanten und des Führungspersonals lassen sich mittlerweile aus Transparenz- und Geschäftsberichten herauslesen. Mein geschätzter Kollege Peter Welchering hat diese für den SWR in seiner letzten Kolumne zusammengerechnet: 4,7 Millionen – ausschließlich für die Saläre der obersten Leitungsebene. Nur so als Richtwert: Der Radiosender Kontrafunk, der seit 2022 vom ehemaligen ÖRR-Journalisten Burkhard Müller-Ullrich betrieben wird, hat laut Meyen ein Jahresbudget von 2,5 Millionen Euro.

Bei den Gehältern von Moderatoren und TV-Stars gibt es keine Transparenz. Ab und an schaffen es Zahlen trotzdem in die Presse: So enthüllten Recherchen der Zeitung die Welt, dass Markus Lanz als ZDF-Talkmaster knapp zwei Millionen Euro im Jahr verdient. Günther Jauch soll von der ARD für seinen Polittalk im Ersten noch mehr bekommen haben. Sind diese Summen notwendig für die Erfüllung des Auftrags? Niemand weiß es, antwortet Michael Meyen. Und so hielten die Sender „Wachstum (…) für ein Naturgesetz“.

Infobox image
Foto: privat
Unser Autor
Ole Skambraks war insgesamt zwölf Jahre als Redakteur und redaktioneller Mitarbeiter für MDR, WDR und SWR tätig. In einem offenen Brief kritisierte er 2021 die Corona-Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Daraufhin wurde ihm vom SWR fristlos gekündigt. Er ist Mitgründer der Initiative meinungsvielfalt.jetzt und setzt sich für eine Renaissance des Journalismus ein.

Die Zuteilung des Budgets der Sender erfolgt über die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF). Deren Mitglieder werden von den Ministerpräsidenten ernannt. Die Parlamente müssen dem KEF-Vorschlag zustimmen. 2020 passierte dies in Sachsen-Anhalt nicht. Es wurde nicht abgestimmt, da eine CDU-AfD-Mehrheit gegen die Erhöhung des Beitrags in Aussicht war. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die Erhöhung trotzdem zu erfolgen habe. Es genüge nicht, wenn ein einzelnes Land diese ablehnt.

Angst, die eigene Meinung könnte sich auf die Vertragsverlängerung auswirken

Meyens Analyse wird durch einen Blick ins ÖRR-Personalwesen besonders scharf. Dort hat sich seit den 1990er-Jahren ein Wandel vollzogen, der von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt blieb, aber deutlich auf die Programmgestaltung wirkt: Waren vor 30 Jahren die meisten Programmmacher in Festanstellung, sind heute zwei Drittel Freiberufler.

Während Urgesteine des ÖRR wie Peter Hahne (ZDF, Berlin direkt) oder Gabriele Krone-Schmalz (ARD, Monitor, Studio Moskau) erklären, dass sie Druck stets abgeschmettert hätten, werden heute kritischen Mitarbeitern die Verträge einfach nicht verlängert oder ihnen wird sogar fristlos gekündigt. In der Corona-Zeit habe ich meine eigene Erfahrung damit gemacht.

Eine interne Umfrage des SWR hat 2024 ergeben, dass jeder dritte programmgestaltende Mitarbeiter erklärte: „Ich habe meine Meinung innerhalb der Redaktion nicht vertreten, aus Sorge, es könnte sich negativ auf die Vertragsverlängerung auswirken.“ Gar 62 Prozent erklärten: „Ich habe das Gefühl, innerhalb meiner Redaktion vertreten andere nicht ihre Meinung, aus Sorge, es könne sich negativ auf die Vertragsverlängerung auswirken.“

Das Gefühl, morgen auf der Abschussliste zu stehen, erstickt kritisches Denken und führt zu immer mehr Gleichklang im Programm. Auch Michael Meyen war vor seiner Professorenlaufbahn als freier redaktioneller Mitarbeiter beim MDR tätig. Er erinnert sich: „Die Verträge unserer Chefs mussten und müssen durch die Gremien. Und auf jeder Hierarchiestufe gibt es ein Gefühl für das, was geht – ganz ohne den täglichen Anruf (aus einem Ministerium), aber hin und wieder von Angesicht zu Angesicht bestätigt.“

„Schleier lüften, Rundfunkbeitrag streichen“

„In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ Diesen Satz würden heute wahrscheinlich viele Menschen unterschreiben. Er stammt aus dem Gründungsaufruf des Neuen Forums im September 1989. Meyen schaut auf das Ende der DDR im letzten Kapitel seines Buches „Wie weiter? Wege in die Zukunft“. Nach seinem Dafürhalten lohnt sich der Blick zurück, um vorwärtszukommen.

Besetzung des Palastes der Republik im Jahr 1990.
Besetzung des Palastes der Republik im Jahr 1990.Rolf Zöllner/imago

Ohne Zweifel steht der ÖRR vor grundlegenden Veränderungen. Weder die ARD-ZDF-Zukunftskommission noch der neue Rundfunkstaatsvertrag oder Anstrengungen in den Anstalten haben bisher vermocht, das Wesentliche anzugehen: ein Wiedererlangen der Akzeptanz in breiten Teilen der Bevölkerung. „Rebuilding Trust“ in den Worten des WEF.

Der Kommunikationswissenschaftler unterscheidet je nach Lager unterschiedliche Wege, die zu verschiedenen Ergebnissen führen. Die erfolgversprechende Strategie derer, denen das jetzige System nützt, könnte nach Meyens Ansicht darin bestehen, „den Schleier zu lüften“: Was Staatsfunk ist, wird schlussendlich auch vom Staat aus dem Haushalt finanziert. Die Rundfunkgebühren werden abgeschafft.

Meyen beschreibt dies gar als Win-win-win-Situation. Der Schritt führe zu klaren Verhältnissen und nehme den aufmüpfigen Bürgern, die mehr Meinungsvielfalt verlangen, den Wind aus den Segeln. Der Wähler könne zudem an der Urne über den Umfang des ÖRR-Angebots entscheiden. Schlussendlich würden, wenn auch in geringerem Maße, die Journalisten profitieren, die „Klarheit hätten und sich außerdem über Statuten und Qualitätskriterien gegen Zumutungen aller Art wehren könnten“.

GEZ = Rundfunkbeitrag = Demokratieabgabe?

Viele europäische Länder haben die Rundfunkgebühr abgeschafft und sind den Weg hin zu Staatsmedien, finanziert aus Steuereinnahmen, gegangen. Darunter finden sich Belgien, Dänemark, Frankreich, die Niederlande oder Slowenien. Großbritannien steht mit der BBC kurz vor diesem Schritt. Interessant ist Meyens Beobachtung, dass die vehementesten konstruktiven Kritiker des ÖRR auf der Beitragspflicht beharren und dabei von „Demokratieabgabe“ sprechen.

Nachzulesen ist das etwa in der Erklärung „Meinungsvielfalt ist die Grundlage von Demokratie und Frieden“ vom Juli 2025. Demokratieabgabe ist ein Wort, das selbst ÖRR-Granden mittlerweile nicht mehr gerne in den Mund nehmen, obwohl sie es einst geprägt haben. Zu groß scheint die Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität. Meyen resümiert: Fällt der Beitrag weg, hört den Kritikern niemand mehr zu.

ÖRR für zwei Euro pro Monat

Der Traumrundfunk des Professors aus München ist ebenfalls beitragsfinanziert. Allerdings würden laut Meyen zwei Euro pro Monat ausreichen, um einen funktionsfähigen ÖRR auszustatten, der sich auf Journalismus konzentriert. „Auftrag Öffentlichkeit“ lautet Meyens Medien-Ideal. „Alle Themen auf die große Bühne und alle Perspektiven“, so „dass wir uns selbst einen Reim darauf machen können“. Unterhaltung, Sport, Filme, Serien und Orchester wären dann nicht mehr Teil des ÖRR-Angebots.

Geloste oder direkt gewählte Publikumsräte würden den neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk kontrollieren. Dazu gäbe es Beratung, Begleitforschung und eine Ombudsstelle für Beschwerden, die öffentlich sichtbar gemacht würden. Unmöglich, ein solcher Neustart? Das Ringen um eine neue Journalismus-Erzählung sei noch nicht entschieden, schreibt Michael Meyen.

Meyen: „Der Wähler kann zudem an der Urne über den Umfang des ÖRR-Angebots entscheiden.“
Meyen: „Der Wähler kann zudem an der Urne über den Umfang des ÖRR-Angebots entscheiden.“dpa

Eine Mehrheit hätte sein Vorschlag in der Gesellschaft, meint der Professor. Doch er zitiert auch Bertolt Brecht, der schon in den 1920er-Jahren den Rundfunk „aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ verwandeln wollte. Laut Hans-Magnus Enzensberger „undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen“.

Sind wir mittlerweile reif genug?

Michael Meyen, Staatsfunk – ARD & Co. sind am Ende – oder müssen neu erfunden werden, Hintergrund-Verlag, erscheint am 22. September 2025, 80 Seiten, 10,90 Euro

Veranstaltung zur Buchveröffentlichung mit Michael Meyen am Dienstag, 16. September 2025, 19 Uhr, im Sprechsaal, Marienstraße 26, Berlin-Mitte: 
www.sprechsaal.de/veranstaltung/buchvorstellung-staatsfunk-ard-co-sind-am-ende-oder-muessen-neu-erfunden-werden

Sponsored Stories