Deutschland steckt in der Krise. Die Wirtschaft ist in der längsten Rezession seit zwanzig Jahren.
Über Jahrzehnte wurden Probleme verschleppt, statt sie zu lösen. So befand sich Deutschland schon vor der Eskalation des Ukrainekriegs in einem langsamen Niedergang. Die Agenda 2010 der Schröder-Regierung hatte Kapital freigesetzt, doch Staat und Unternehmen investierten zu wenig, sodass zukunftsfähige Innovationen auf der Strecke blieben. Zudem wurde durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und die Kürzungen von Sozialleistungen die Arbeitnehmerseite überbordend belastet. Deutschland schuf sich den größten Niedriglohnsektor Europas. Im Inland wurde dadurch der Konsum geschwächt. Aber durch die rabiate Senkung der Lohnkosten erhielt die deutsche Wirtschaft kurzfristig einen Wettbewerbsvorteil: Deutschland wurde Exportweltmeister. Unser Wohlstand wurde abhängig von Märkten im Ausland. Der Ökonom Tom Krebs von der Universität Mannheim konstatiert, Deutschland brauche eine strategische Industriepolitik, um mit China und den USA mithalten zu können.
Ökonom Tom Krebs: „Deutschland braucht eine Industriestrategie“
Heute bekommen wir die Quittung. Der Weg in den größten Absatzmarkt der Welt wird sperriger. US-Präsident Donald Trump hat die EU mit Zöllen überzogen. Das hat Folgen für die deutsche Industrie: Im ersten Halbjahr 2025 sind die Gewinne aller großen deutschen Autohersteller stark eingebrochen. Nun stehen die Exporte in die USA auf der Kippe. Die US-Importe aus Deutschland gingen im Zuge der anhaltenden industriellen Abschwächung den dritten Monat in Folge zurück. Die Lieferungen in die USA sanken um 2,1 Prozent auf 11,8 Milliarden Euro und erreichten damit den niedrigsten Stand seit Februar 2022.
Das mit den USA um den Status der Weltmacht Nummer eins konkurrierende China ist in wesentlichen Wirtschaftsbereichen an uns vorbeigezogen. Deutsche Verbrenner-Pkw sind weniger gefragt. China dreht den Spieß sogar um und erobert mit modernen Elektroautos sukzessive den europäischen Markt.
„Seit Ende 2019 sind die Statistiken ziemlich auffällig. Das BIP in Deutschland ist in diesem Zeitraum stagniert, während der Rest der Eurozone um fünf Prozent und die USA um elf Prozent gewachsen sind“, erläutert der Europa-Chefökonom von Goldman Sachs, Jari Stehn. „Dafür gibt es einige offensichtliche Gründe. Einer davon ist die Energiekrise, die Deutschland besonders hart getroffen hat, da es so stark von russischem Pipelinegas abhängig war. Deutschland hat viele energieintensive Produktionszweige, und seine Wirtschaft ist stark auf die verarbeitende Industrie ausgerichtet. Daher ist es nur natürlich, dass sich der Anstieg der Energiepreise in Deutschland stärker ausgewirkt hat als in anderen Ländern.“
Russisches Öl und Gas war über Jahrzehnte ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die deutsche Industrie. Die russischen Energieimporte hat Deutschland durch Flüssigerdgas-Einfuhren aus anderen Ländern, vor allem aus den USA, versucht zu substituieren. Mit der Folge, dass die gestiegenen Energiepreise die Wirtschaft belasten und die Lebenshaltungskosten erhöhen. War das ein Joker, den die deutsche Wirtschaft leichtfertig verspielt hat?
Tom Krebs sagt der Berliner Zeitung: „Die hohen Energiepreise haben einen erheblichen Anteil an der aktuellen Misere. Der Energieschock 2022 hat die Inflation befeuert und großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet; aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass der Energiepreisschock einen dauerhaften Produktionsverlust von rund 160 Milliarden Euro pro Jahr verursacht hat.“ Zwar seien die Energiepreise wieder gesunken, aber die Unsicherheit sei immer noch sehr hoch, und das wirke als Investitionsbremse.
Die Bundesregierung gesteht das Problem ein. „Die Energiekosten in Deutschland sind nach den Krisenjahren zwar merklich gesunken, liegen jedoch weiterhin deutlich über dem Vorkrisenniveau“, erklärt das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage der Berliner Zeitung. Dies belaste sowohl die Verbraucher als auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. „Umso wichtiger ist es, Fehlentwicklungen im Energiesystem zu korrigieren. Denn eine sichere Energieversorgung muss jederzeit gewährleistet sein – und zugleich bezahlbar bleiben.“
Bisher hat die Bundesregierung Maßnahmen zur Senkung der Energiepreise getroffen. Es soll einen Zuschuss zu den Netzkosten in Höhe von 6,5 Milliarden Euro im Jahr geben. Durch die Abschaffung der Gasspeicherumlage soll ein Entlastungsvolumen von rund 3,4 Milliarden Euro erzielt und die Stromsteuer auf den EU-Mindeststeuersatz gesenkt werden. Derzeit hat Deutschland die höchsten Strompreise in Europa.
Doch für die Wirtschaft ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die Bundesregierung hat bisher keine echten Maßnahmen zur wirksamen Senkung der Energiepreise durchgesetzt“, sagt Thomas Brockmeier, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Halle-Dessau, im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Die Bundesregierung habe nicht versucht, das Energieangebot wirksam zu erhöhen. „Das, was wir an Maßnahmen gesehen haben, betrifft Steuern, Abgaben, sonstige Entgelte, die auf den originären Preis noch draufkommen.“ Es sei zwar richtig, auf diesem Weg kurzfristig den Preis zu senken, um Druck aus dem Kessel zu nehmen, aber es löse das grundlegende Problem nicht. „Wir brauchen in Deutschland wieder wettbewerbsfähige Energiepreise“, sagt Brockmeier.
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Ostdeutschland sei besonders betroffen. „Insbesondere im industriellen Sektor, vor allem in der Produktion von Grundstoff- und Vorleistungsgütern. Im südlichen Sachsen-Anhalt, in den Chemieparks in Leuna, Zeitz, Bitterfeld-Wolfen und Schkopau haben wir die größten Probleme“, sagt Brockmeier. „Wir haben erhebliche Produktionseinbrüche zu verzeichnen. Anlagen werden entweder ganz abgestellt, oder sie werden nur noch auf der minimalen Kapazität weiterbetrieben, die notwendig ist, damit es keine technischen Schwierigkeiten gibt. Das heißt, manche Anlagen werden zum technischen Erhalt weiterbetrieben, aber damit wird kein Geld verdient“
Auch für Tom Krebs greifen die Maßnahmen zu kurz: „Die Bundesregierung von Friedrich Merz hat keinen überzeugenden Plan, wie sie die deutsche Wirtschaft auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringen kann.“ Deutschland brauche eine strategische Industriepolitik, inklusive einer Strompreisbremse, um mit der Konkurrenz aus China und den USA mithalten zu können. „Doch aus dem Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium kommen nur Kalendersprüche, die auf einer naiven Marktgläubigkeit basieren – diese Regierung fährt die Industrie gerade vor die Wand“, sagt der erfahrene Ökonom.
Deutschland hat seit dem Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 schwere Einbußen zu verzeichnen. Die Sanktionen gegen Russland haben ihr Ziel verfehlt, sagt der IHK-Geschäftsführer aus Halle-Dessau, Brockmeier: „Schauen wir auf die Resultate nach dreieinhalb Jahren Krieg: Die wirtschaftlichen Sanktionen sollen dazu beitragen, den Aggressor Russland wirtschaftlich so zu schwächen, dass er seinen Angriffskrieg nicht fortsetzen kann“, sagt er. Doch davon könne nicht die Rede sein. Der Krieg werde schließlich weiter mit unverminderter Härte fortgesetzt.
„Würden die wirtschaftlichen Sanktionen greifen, dann wäre der Aggressor Russland spürbar geschwächt und die brutalen Angriffe auf die Ukraine nicht möglich. Das heißt, die bisherige Strategie scheint nicht aufzugehen“, sagt Brockmeier. Deutschland und die EU seien insofern gut beraten, über eine alternative Strategie nachzudenken. „Wir brauchen offenbar eine Art von Exit-Option. Stattdessen treffen die Sanktionen die deutsche Wirtschaft – insbesondere in Ostdeutschland. Ich will es zugespitzt formulieren: Es ist eine absurde Situation. Die Strategie geht nicht auf.“
Bundesregierung: „Deutschland ist unabhängig von russischem Pipeline-Gas“
Die Bundesregierung zieht hingegen ein positives Fazit. Aus dem Wirtschaftsministerium heißt es auf Nachfrage: Unternehmen hätten ihre Verträge umgestellt, es habe eine klare und erfolgreiche Diversifizierung weg von russischen Energieimporten stattgefunden. Die Gasversorgungsicherheit in Deutschland sei hoch. „Deutschland ist unabhängig von russischem Pipeline-Gas“, heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium.
Über eine Alternative zu Sanktionen wird in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Der Druck ist hoch. Es sei derzeit eine „extrem aufgeladenen Atmosphäre und eine sehr polarisierte Debatte“ zu spüren, sagt Brockmeier. „Wer auch nur den Gedanken ausspricht, über wirtschaftliche Beziehungen zu Russland nachzudenken oder irgendwann wieder aufzunehmen, der wird gerne in die Nähe eines Menschen gerückt, der für ein Linsengericht bereit sei, so etwas wie einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu tolerieren“, sagt Brockmeier. „Wenn wir unter solchen Voraussetzungen diskutieren, gibt es keinen konstruktiven Weg. Sobald Sie in diese Richtung anfangen zu denken, wird Ihnen unterstellt, ein Putinfreund zu sein. Dabei sollte man versuchen, sich nüchtern und sachlich der Frage zu nähern.“
Natürlich ist die politische Situation nicht einfach. In der Ukraine wird mit unverminderter Härte gekämpft, Frieden ist in weiter Ferne, auch wenn US-Präsident Donald Trump und sein russischer Counterpart Wladimir Putin erste Verhandlungen initiiert haben.
Für Brockmeier ist klar: „Wer einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beginnt, der muss in die Schranken gewiesen werden.“ Dafür lägen verschiedene Optionen auf dem Tisch. „Es gibt die militärische Option, es gibt die Möglichkeit, wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen, und es gibt den Versuch, diplomatische Verhandlungen zu initiieren.“ Wirtschaftsbeziehungen zu Russland dürften seiner Ansicht nach nur unter der Prämisse wieder aufgenommen werden, wenn im Ansatz eine Chance bestehe, dem alten Grundsatz „Wandel durch Handel“ wieder Geltung zu verschaffen, sagt er. Außerdem müsse gewährleistet sein, dass die eigene wirtschaftliche Stärke erhalten bleibe, die notwendig sei, um der Ukraine weiterhin wirksame Unterstützung zukommen zu lassen und auch die eigene Wirtschaftskraft erhalten zu können, um selbst militärisch verteidigungsfähig sein zu können.
„Sanktionen haben zur wirtschaftlichen Stärkung Russlands beigetragen“
Trotz umfassender Sanktionen beliefert Russland weiter große Teile Europas mit Öl und Flüssigerdgas. Über Indien kaufen die Europäer Öl aus Russland, zu höheren Preisen, als wenn es direkt durch die Pipeline geliefert werden würde. „Einige wirtschaftliche Sanktionen haben nicht nur nicht zur Schwächung Russlands beigetragen, sondern im Gegenteil, sogar zur wirtschaftlichen Stärkung Russlands“, sagt der IHK-Chef aus Halle-Dessau. „Insbesondere bei Gas und Öl hat die durch die Sanktionen entstandene Verknappung dazu geführt, dass auf etablierten Märkten andere Abnehmer gefunden wurden, die höhere Preise gezahlt haben.“
Manche Maßnahmen seien nicht nur inkonsistent, sondern regelrecht widersprüchlich oder – aus internationaler Perspektive – gar doppelbödig, sagt Brockmeier. „Wir verzichten auf Pipelinegas aus Russland, beziehen aber Frackinggas aus den USA, das mit dieselbetriebenen Tankern über den Atlantik verschifft wird.“
Brockmeier nennt ein geradezu absurd anmutendes Beispiel, wie sich Deutschland durch die Russland-Sanktionen selber schadet. „Die Firma SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Wittenberg stellt Düngemittel her“, erzählt er. „Es ist ein sehr energieintensiver Prozess, vor allem aber wird das Gas stofflich genutzt, sehr viel stärker noch als energetisch.“ Gas sei dabei der wesentliche Rohstoff. Der Dünger stelle im Grunde zu etwa 80 Prozent veredeltes Erdgas dar. „Weil wir auf das vergleichsweise günstige Pipeline-Gas aus Russland verzichten, muss das Gas aus teureren Quellen bezogen werden. Dadurch steigt natürlich der Düngerpreis.“ Das Verrückte sei: „Es gibt einen Konkurrenten, der sitzt in Russland. Und die EU hat den Import nicht verboten. Das führt dazu, dass wir den Dünger importieren, die russische Wirtschaft stärken und unsere Wirtschaft schwächen. Das kann nicht das Ziel der Politik sein.“