Sollen jetzt die über 80-Jährigen dran glauben? Zumindest diejenigen unter ihnen, die gesetzlich krankenversichert sind, also die große Mehrheit der betagten Bundesbürger? Sollen sie bestimmte medizinische Leistungen nicht mehr von der Solidargemeinschaft erstattet bekommen? Soll so tatsächlich den ständig steigenden Kassenbeiträgen Einhalt geboten werden?
Wenigstens handelt es sich nicht um einen Vorstoß aus der Politik. Es ist kein Kabinettsbeschluss der Koalition von CDU und SPD, sondern nur so eine Idee. Die trägt allerdings große gesellschaftliche Sprengkraft in sich. Geäußert hat sie dieser Tage ein gewisser Thomas Lemke. Er ist der Chef der Sana-Kliniken AG.
Die Idee ist nicht neu. Ein CDU-Politiker namens Philipp Mißfelder hat etwas Ähnliches schon einmal vor 22 Jahren in die Debatte eingebracht; damals ging es bereits um künstliche Hüftgelenke, es ging um Patienten jenseits der 70. Nun sprach Lemke von mutmaßlich überflüssigen Eingriffen, und man muss ihm fast dafür dankbar sein, dass er sich als Vorstand eines renditeorientierten Konzerns in dieser Weise zu Wort meldete.
Weil sich die Einnahmen der Kassen nicht grenzenlos steigern lassen, richtete der Krankenhausmanager den Fokus auf die Ausgaben. Wenn auch zunächst in einer bizarren Art: Einschränken soll sich künftig eine besonders vulnerable Altersgruppe. Frei nach dem Motto: Sterben ohnehin bald, lohnt sich nicht mehr.
Es geht ums Prinzip und daher alle an, für deren Wohlergehen das Gesundheitssystem gedacht ist: die Versicherten. Ein Teil ihrer Beiträge landet aber über Unternehmen wie Sana auf den Konten von Aktionären. Dass dieser Umstand nun ins Blickfeld gerät, ist das unfreiwillige Verdienst des Topmanagers Lemke.
Aus ökonomischer Perspektive werden Menschen zu Kunden, ältere Patienten zu einem Kostenfaktor. Das ist das Personal, das sich um sie kümmert, unter solchen Umständen sowieso. Für Krankenhäuser – das muss in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden – wenden die Kassen am meisten Geld auf.
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Private Unternehmen wirtschaften effizienter als öffentliche Klinikträger, lautet ein oft vorgebrachtes Argument der Befürworter dieser Entwicklung. Das anwachsende Engagement lohnt sich jedenfalls. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Zahl der privatwirtschaftlich geführten Krankenhäuser von knapp 15 Prozent im Jahr 1991 auf etwa 40 Prozent gestiegen ist.
Das besagt eine Statistik, die der Marburger Bund im vergangenen Jahr herausgegeben hat. Mit durchschnittlich 130 Betten pro Haus gehören die Privaten zu den kleineren Einrichtungen ihrer Art. Öffentliche Krankenhäuser sind mit 420 Betten im Schnitt mehr als dreimal so groß, was auf ein breiteres Leistungsspektrum zurückzuführen ist, das auch weniger lukrative Bereiche der Daseinsfürsorge abdecken muss. In Zeiten knapper staatlicher Kassen eine immer größer werdende Herausforderung, die nicht selten in eine Insolvenz mündet.
Die stationäre medizinische Versorgung stand am Anfang der Privatisierung im Gesundheitswesen. Längst ist der ambulante Sektor ins Blickfeld von Gewinninteressen geraten. Bei seinem Vorhaben, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) mit klaren Renditevorgaben zurückzudrängen, ist der vormalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nicht weit gekommen, was natürlich auch daran lag, dass er seinen Job an Nina Warken (CDU) abtreten musste.
Gesetzliche Krankenkassen: Das gesundheitliche Risiko wird privatisiert
Ebenfalls zunehmend privatisiert wird das individuelle gesundheitliche Risiko der gesetzlich Versicherten. Mehr Eigenverantwortung lautet das beschönigende Schlagwort. Bei Zahnersatz hielt dieses Prinzip schon vor geraumer Zeit Einzug. Wer ein makellos strahlendes Gebiss vorweisen möchte, zahlt drauf. Zusatzversicherungen liegen inzwischen auch in vielen anderen medizinischen Teilbereichen im Trend. Mit 31,2 Millionen solcher Verträge erreichten sie im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand.
In diese Entwicklung fügt sich der Vorschlag von Sana-Chef Lemke nahtlos ein. Die Notfallmedizin und Standardtherapien schloss er zwar aus, doch durchdenkt man seinen Debattenbeitrag bis zum bitteren Ende, entsteht das Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft, das sich niemand wünschen kann. Die Konsequenzen wären dramatisch.