Die italienische Ministerpräsidentin ist international ein politisches Schwergewicht geworden, und auch zu Hause sitzt sie fest im Sattel. Eigentlich erstaunlich, schaut man ihren Leistungsausweis an.
Italien trauert um Giorgio Armani. Der Star-Designer starb am Freitag. Bis zuletzt hatte er an seinem Mode-Imperium gearbeitet, das ihn weltberühmt gemacht hatte. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kondolierte auf der Kurznachrichtenplattform X: «Mit seiner Eleganz, seiner Nüchternheit und seiner Kreativität hat er der italienischen Mode Glanz verliehen und die ganze Welt inspiriert. Eine Ikone, ein unermüdlicher Arbeiter, ein Symbol für das Beste Italiens. Danke für alles.»
Melonis Respekt für Armanis Lebenswerk kommt nicht von ungefähr. Denn nur wenige Italiener, die heute leben, lassen ihr Land in einem so durchweg positiven Licht erscheinen, wie es Armani gelang.
Gerade auf Melonis Gebiet – der Politik – gilt Italien eigentlich eher als Beispiel, das es zu vermeiden gilt: In der EU galt das Land über Jahre als Risikofaktor, dessen hohe Staatsverschuldung regelmässig drohte, die ganze Staatenunion mit sich in den Abgrund zu reissen. Hinzu kommt eine politische Instabilität, die dazu führt, dass es keinem Ministerpräsidenten gelingt, bis ans Ende seiner Mandatsdauer an der Macht zu bleiben. Regelmässig müssen daher Technokratenregierungen eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern.
Dass ausgerechnet Meloni von einer postfaschistischen Partei das ändern würde, darauf hätte bei ihrem Amtsantritt niemand gesetzt. Doch heute, nach knapp drei Jahren im Amt, ist genau das der Fall: Meloni sitzt so fest im Sattel der Macht, wie es keinem anderen italienischen Ministerpräsidenten in den vergangenen dreissig Jahren gelungen ist. Und so sieht es derzeit nicht nur danach aus, als würde sie über die komplette fünfjährige Mandatsdauer im Amt bleiben – sondern anschliessend sogar wiedergewählt werden. Das grenzt fast an ein Wunder in Italien.
Auch international findet Meloni Beachtung. Kürzlich setzte das amerikanische «Time»-Magazin sie auf seinen Titel, und darunter stand die Zeile: «Wohin Giorgia Meloni Europa führt». Und auch in ihrer Heimat erhielt sie kürzlich beim Treffen von Rimini, das gegen Ende jeden Sommers die neue politische Saison einläutet, derart viel Applaus, das sie zu Tränen gerührt war.
Ihr Erfolg hat mehrere Gründe, doch einer sticht hervor: Meloni ist äusserst geschickt im Umgang mit rechtspopulistischen Männern – sowohl im eigenen Land als auch international.
So ist ihr Aufstieg an die Macht undenkbar ohne ihr gutes Verhältnis zum ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der sie öffentlich unterstützte, als er längst Anführer der europäischen Rechtspopulisten war und Melonis rechtsnationalistische Partei Fratelli d’Italia in der Heimat es nicht einmal schaffte, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen.
Bei den Konservativen in den USA kam Meloni mit ihrer antiwoken Haltung und ihrem konservativen Familienbild von Beginn an gut an und schien mit ihrer Freundschaft zum Unternehmer Elon Musk und ihrer Nähe zu US-Präsident Donald Trump das Beste zu sein, was den Europäern passieren konnte. Mit Meloni kann das Team Europa bei Trump punkten, war die Hoffnung.
Auch im eigenen Land nutzte sie die Stimmen des Rechtspopulisten Matteo Salvini und seiner Lega-Partei sowie von Silvio Berlusconis Forza Italia, um nach der Wahl im Oktober 2022 auf die notwendige Mehrheit im Parlament zu kommen. Im Anschluss gelang es ihr, den Krawallmacher Salvini kleinzuhalten. Und Berlusconi, der als Putin-Freund ihrem Image als Ukraine-Unterstützerin zu schaden begann, starb im Juli 2023.
Doch hat sie ihren Ruf als Anführerin, ja Retterin Europas wirklich verdient?
Auf den ersten Blick sieht es so aus: Meloni hat sich als Brückenbauerin zwischen Trump und der EU etabliert, indem sie die Interessen der EU im Blick behält, ohne dabei Trump vor den Kopf zu stossen. «Wenn die EU etwas von Trump will, schickt sie jetzt Meloni vor», sagt Marco Valbruzzi, Politologe an der Federico-II.-Universität in Neapel. Das habe ihr politisches Ansehen gehoben, in der EU, aber auch in Italien selbst, wo man es nicht gewohnt sei, das EU-Land mit privilegiertem Zugang zu den USA zu sein.
Allerdings konnte Meloni dieses politische Kapital noch nicht in greifbare Erfolge verwandeln. Denn der Trump-Flüsterin Meloni gelang es eben nicht, die EU in ein besseres Licht zu stellen. Zwar kam die EU mit 15 Prozent Zöllen im US-Handelskrieg vergleichsweise glimpflich davon. Doch nun droht Trump, die Zoll-Vereinbarung wieder aufzukündigen, sollte die EU die Kartellstrafe gegen Alphabet, den Mutterkonzern von Google, von fast 3 Milliarden Euro nicht zurückziehen und auch gleich von einer Digitalsteuer absehen.
Selbst beim Thema Ukraine ist Melonis Bilanz bis anhin mager: Zwar gibt sie sich bei jeder Gelegenheit als grosse Ukraine-Unterstützerin, doch bisher hat sie nichts Grosses für die Verteidigung des Landes erreicht. So ist ihr Vorschlag, die Ukraine zwar nicht in die Nato aufzunehmen, ihr aber die Artikel-5-Sicherheitsgarantien zuzusichern, rasch von der Bildfläche verschwunden. Vielmehr ist nun die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron organisierte Koalition der Willigen das grosse Thema, von denen einige sogar zugesichert haben, den Frieden in der Ukraine eines Tages mit eigenen Soldaten zu verteidigen. Das lehnt Meloni ab: Italienische Truppen wird es in der Ukraine mit ihr nicht geben.
Ihr Ruf hat dadurch aber kaum Schaden genommen. Das mag auch daran liegen, dass die Regierungschefs der anderen grossen EU-Länder Deutschland, Spanien und Frankreich derzeit keine gute Figur machen. Sie werden an der Heimatfront kritisiert, ja gehasst. Nicht so Meloni. Sie hat es geschafft, Stabilität in die italienische Politik zu bringen. Das sei ihr «grösster Erfolg», sagt der Politologe Valbruzzi. Kein gegnerischer Politiker kann ihr derzeit das Wasser reichen.
Dabei haben sich die grossen Versprechen, mit denen ihre Regierung angetreten war, namentlich eine Verfassungsreform und eine Reform der Autonomiegesetze der Regionen, im Sand verlaufen. Allein ihre Justizreform setzte Meloni teilweise um und schränkte die Macht der Richter damit ein. Zugleich ist es ihr aber nicht gelungen, ihre Sozialpolitik umzusetzen: Mittelschicht und Familien warten auch weiterhin auf dauerhafte, relevante Steuersenkungen.
Zur Wahrheit gehört zwar auch, dass die hohe Staatsverschuldung Italiens Melonis Bewegungsspielraum stark einschränkt und allein die Leistung, Italiens Staatsfinanzen in stabilen Bahnen zu halten, als Erfolg gelten kann – doch bei weitem keiner, der die Standing Ovations bei dem Treffen in Rimini rechtfertigen würde. Denn die wirtschaftliche Lage der Familien hat sich unter Meloni eher verschlechtert als gebessert, wie die leeren Badestrände im Sommer gezeigt hatten.
Und auch bei ihrem wichtigsten Thema, dem Kampf gegen die irreguläre Migration, kann Meloni ebenfalls kaum etwas vorweisen. Ihr Leuchtturmprojekt, die Lager, die sie in Albanien für die beschleunigte Bearbeitung von Asylanträgen hat errichten lassen, werden bis heute nicht dafür genutzt. Italienische Richter stimmen der Festsetzung der Migranten in den Lagern nicht zu – und bekamen vom Europäischen Gerichtshof Rückendeckung.
Die Lager hatten Meloni in Europa viel Aufmerksamkeit eingebracht, weil sie die ersten Asylzentren sind, die ein EU-Land ausserhalb der Staatenunion errichtet hat. An ihrem Beispiel zeigt sich das Prinzip Meloni überdeutlich: Allein von dem Versuch, diese Asylzentren zu schaffen, hat Meloni politisch profitiert. Dass sie ihren Zweck nicht erfüllen, spielt keine Rolle. Daran sind andere schuld. Vielleicht erklärt dies das politische Wunder.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»