Kaum jemand bemerkte es, als Donald Trump im Juli dieses Jahres eine bis heute geheime Anweisung unterschrieb, die es dem US-Militär erlaubt, gegen Drogenkartelle in der Karibik mit Waffengewalt vorzugehen. Was genau darin steht, wie das Militär Drogenkuriere von anderen Menschen unterscheiden soll, ist bis heute geheim. Die Konsequenzen dagegen sind es nicht, sie wurden am 2. September deutlich, als Trump inmitten der Epstein-Kontroverse in den USA ein kurzes, 29-Sekunden-Video veröffentlichte. Man sieht darauf ein Schnellboot auf hoher See, in dem mehrere Personen sitzen. Es rast offenbar bei Nacht durch die Wellen, zu erkennen sind Gegenstände an Bord. Dann trifft es ein heller Blitz, es zersplittert und brennt. Das Video ist offenbar zusammengeschnitten, aber es scheint so, als sei das Boot oder das, was davon übrig war, noch weiter beschossen worden.
Nach amerikanischem Recht kann der US-Präsident das Militär ohne Zustimmung des Kongresses im Ausland einsetzen, wenn er so eine direkte und aktuelle Gefahr für die USA abwenden kann. Dann muss er allerdings innerhalb von 48 Stunden Bericht erstatten. Das hat er inzwischen auch getan und der Bericht hat es in sich.
Rechtfertigt Selbstverteidigung alles?
Ihm zufolge haben die USA von ihrem Recht auf Selbstverteidigung gegen eine terroristische Organisation Gebrauch gemacht, die „jedes Jahr zehntausende US-Bürger tötet“ und andere bedroht, indem sie Drogen in die USA schmuggelt. Der Bericht verrät nicht, woher das US-Militär wusste, dass das Schnellboot, das in dem Moment in internationalen Gewässern unterwegs war, von Drogenkurieren gelenkt wurde und Drogen an Bord hatte. Durch eine Äußerung von Außenminister Marco Rubio weiß man: Es war auf dem Weg nach Trinidad und Tobago, also nicht in die USA. Und es gab keinen Versuch, das Boot abzubringen, was die US-Küstenwache regelmäßig tut, wenn sich solche Boote der Küste nähern. Man kann das auch so zusammenfassen: Auf Befehl des Präsidenten versenkte das Militär ein Boot und tötete alle elf Insassen, weil der Präsident zuvor festgelegt hatte, dass es sich bei den Insassen um Drogenschmuggler handelt und er Drogenschmuggler zuvor zu Terroristen und Drogenschmuggel zu einem bewaffneten Angriff auf die USA erklärt hatte. Nur wenn vorher ein Angriff erfolgt oder unmittelbar droht, kann sich ein Staat gegen einen anderen Staat auf Selbstverteidigung berufen. Selbst wenn man Trump folgt und Drogenschmuggel als bewaffneten Angriff auf die USA interpretiert, bleiben zwei Probleme: Vom Recht auf Selbstverteidigung nach der UN-Charta kann man nur Gebrauch machen, wenn man von einem Staat angegriffen wird. Der 48-Stunden-Bericht Trumps nennt keinen solchen Staat. Und der Schlag gegen das Boot erfolgte in internationalen Gewässern.
Inzwischen sind auch erhebliche Zweifel aufgetaucht, ob Trump mit der Bombardierung einer zivilen Bootsbesatzung womöglich nicht nur Völkerrecht, sondern auch US-Recht gebrochen hat. Wirklich wichtig ist das nicht, der Oberste Gerichtshof hat ihm selbst für Verbrechen, die er in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Kompetenzen (und Außenpolitik und der Schutz der Grenzen sind das) begeht, Immunität eingeräumt. Wenn klar wird, dass ein Tatbestand, zu dem die Bundesbehörden ermitteln, vom Präsidenten begangen wurde, müssen die Ermittlungen eingestellt werden. Im Fall des Schnellbootes müssen sie nichts ermitteln, Trump hat alles öffentlich zugegeben. Wichtiger ist – zumindest für alle außerhalb der USA –, dass damit ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen wurde: die vorsätzliche Tötung von Zivilisten unter Einsatz militärischer Gewalt mit einer vollkommen willkürlichen und unüberprüfbaren Rechtfertigung.
Mit Drohnen gegen Zivilisten
Es ist auch schon in der Vergangenheit vorgekommen, dass US-Behörden (meist war das die CIA) Zivilisten „außergerichtlich“ getötet haben, etwa wenn sie afghanische Hochzeitsgesellschaften, die sie in die Luft schossen, mit Drohnenangriffen auslöschten, weil sie sie für eine Ansammlung von Terroristen hielten. Allerdings entschuldigten sie sich dann dafür und zahlten den Hinterbliebenen Entschädigungen, zuletzt liefen solche Verhandlungen in Somalia. Der Luftangriff auf das Schnellboot vor zehn Tagen war kein Versehen, Trump und Rubio sind stolz drauf und von Entschädigungen ist keine Rede.
Wer jetzt den Kopf schüttelt über diese Amerikaner, die absichtlich Zivilisten (auch Drogendealer sind Zivilisten) bombardieren, der möge sich an die ehemalige Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, erinnern, die 2015 ein UN-Mandat für die Bombardierung von Schleppern im Mittelmeer forderte. Die sind übrigens völkerrechtlich betrachtet auch Zivilisten und meistens ja auch schlechter bewaffnet als Drogendealer.
Die Hamas ist kein Staat
Der Militärschlag gegen angebliche Schlepper in der Karibik ist noch aus einem anderen Grund wichtig: Eine Woche später versuchte Israel, die Hamas-Führung in Doha mit einem Luftschlag auszulöschen. Wieder hatte eine Regierung beschlossen, außerhalb ihrer Landesgrenzen eine Gruppe Menschen anzugreifen, die sie zu einer nationalen Gefahr erklärt hatte. Und sofort verbreiteten sich auf Facebook, X und anderen sozialen Medien Interpretationen, Israel habe damit ja nur von seinem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch gemacht. Das klingt in diesem Fall vielleicht etwas überzeugender als Trumps 48-Stunden-Bericht, denn die Hamas hat Israel ja vor zwei Jahren tatsächlich mit Waffen angegriffen und tut das sporadisch bis heute weiter.
Und natürlich haben Staaten das Recht und sogar die Pflicht, sich gegen terroristische Angriffe zu verteidigen. Das Problem dabei ist nur: Die Hamas ist kein Staat. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum so viele Journalisten, Kommentatoren, Internet-Propagandisten und Politiker, die eigentlich Israel verteidigen wollen, die Hamas implizit zu einem Staat verklären, indem sie Begriffe, Konzepte und Rechtsvorschriften auf sie anwenden, die – wie etwa die UN-Charta und der größte Teil der Genfer Konventionen – die Beziehungen zwischen und die Pflichten von Staaten regeln.
Die Hamas ist kein Staat, sie ist eine Terrororganisation, die im Lichte des Völkerrechts weder Rechten noch Pflichten hat. Genau wie die ETA, die RAF, der Leuchtende Pfad in Peru, die Roten Brigaden in Italien, wie Al Kaida, Al-Shabab und ISIS. Man kann ihre Botschafter nicht einberufen, weil sie keine haben, man kann sie nicht sanktionieren, weil Handel mit ihnen zu treiben ohnehin verboten ist, man kann ihnen nicht vorwerfen, gegen internationale Konventionen zu verstoßen, weil sie die weder unterschreiben noch ratifizieren können. Und genau deshalb kann man sich auch nur aufgrund nationaler Vorschriften gegen sie verteidigen – die UN-Charta ist auf sie nicht anwendbar, die Hamas ist ja auch kein UN-Mitglied.
Bis du nicht willig (oder fähig), gebrauch ich Gewalt
Darf man Katar angreifen, weil das Land der Hamas Unterschlupf gewährt? Unter bestimmten Umständen darf man das. Der Verweis auf die USA und ihre Koalition der Willigen, die Afghanistan angriffen, um Al-Kaida zu treffen und die Taliban von der Macht zu vertreiben, ist hier kein gutes Argument: Sie hatten ein Mandat des UN-Sicherheitsrats dafür. Besser ist da der Hinweis auf die Ermordung Ossama Bin Ladens in einem Drittland mit ähnlicher Rolle wie Katar. Das hat in der westlichen Welt damals kaum jemand verurteilt, obwohl auch das ein Verstoß gegen das Gewaltverbot war und die Souveränität Pakistans verletzte. Nur: Dass das illegal war, aber nicht verurteilt wurde, rechtfertigt ja nicht den Luftschlag auf Doha oder den in der Karibik. Es zeigt nur, dass wir mit zweierlei Maß messen. Aber dazu später.
Meistgelesene Artikel
Ein UN-Mandat wie für die Invasion Afghanistans hatten weder Trump in der Karibik noch Netanjahu für Doha. Durfte sich Israel also gegen Katar verteidigen, weil Katar die Hamas-Führung beherbergte? Israel-freundliche Kommentatoren sagen natürlich ja und berufen sich dabei auf das gleiche Argument wie Trump nach seinem Luftschlag in der Karibik: Wenn ein Land „nicht willens oder nicht fähig“ sei, gegen eine bewaffnete Miliz vorzugehen, die für ein anderes Land eine Gefahr darstellt, dürfe dieses andere Land diese Miliz auch auf dem Gebiet des Gastgeber-Staates angreifen – im Rahmen der Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta.
So steht es zwar nicht in der Charta, aber so steht es in einigen Urteilen des Internationalen Gerichtshofs (IGH). Der hat dem aber sehr enge Grenzen gesetzt: eine solche militärische Selbstverteidigung muss notwendig und verhältnismäßig sein. Die Forderung erfüllt der israelische Luftschlag gegen Doha: ein Gebäude zu bombardieren (und nicht mehr), um die Führung der Hamas zu treffen, ist – im Gegensatz zu den Flächenbombardements in Gaza, deren militärischer Nutzen sehr vage ist – verhältnismäßig. Es fehlt aber ein anderes Kriterium des IGH: Um in Selbstverteidigung Doha angreifen zu können, müsste Israel beweisen, dass die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel von Katar kontrolliert wurde. Es genügt nicht, dass sich Hamas-Führer in Doha aufhalten, die Hamas muss als Katar-Proxy auftreten, etwa so wie die Separatisten im Donbass, die von Russland abhängig waren, mit Waffen und Munition unterstützt und von russischen Offizieren ausgebildet wurden und deren Anführer oft auch russische Staatsbürger waren. Dann wäre Doha aber nicht mehr Vermittler zwischen Israel und der Hamas, sondern könnte gleich in ihrem Namen sprechen – wie der Kreml das für die Separatisten tat oder der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic für die bosnischen Serben.
Es ist nicht das erste Mal, dass Netanjahus Internet-Fangemeinde über das Ziel hinausschießt und Israel gegen Vorwürfe verteidigt, die Netanjahu selbst einräumt. Er hat den Angriff auf die Hamas-Führung in Doha nämlich gar nicht als Selbstverteidigung, sondern als Vergeltung bezeichnet. Und Vergeltung verbietet die UN-Charta, weil sie Gewaltanwendung zwischen Staaten grundsätzlich ablehnt und Selbstverteidigung nur als Ausnahme vom Gewaltverbot zulässt. Für Vergeltung gibt es eine solche Ausnahme nicht. Zulässig ist nur, einen anderen Staat mit friedlichen Mitteln abzustrafen, mit diplomatischen oder wirtschaftlichen Sanktionen.
Wenn Israel-Verteidigung Israel schadet
Um Missverständnisse zu vermeiden: Bei weitem nicht alles, was Israel in den letzten zwei Jahren getan hat, ist völkerrechtswidrig. Die öffentliche Debatte darüber krankt sehr daran, dass Israels Verteidiger meist alles verteidigen, was Israel tut (auch das, was eigentlich unentschuldbar ist oder was Israels Regierung zugibt) und auf jeden Vorwurf mit „aber Hamas…“ antworten, als wäre Hamas für Israel ein moralisch, völkerrechtlich und militärisch ebenbürtiger Gegner. Meist verzichten sie aber völlig darauf, Israel da zu verteidigen, wo es im Recht ist.
Im Lichte der oben genannten IGH-Kriterien handelt Israel vollkommen legal, wenn es in den Houthi-kontrollierten Gebieten des Jemen Einrichtungen bombardiert, von denen aus es angegriffen wurde. Die Houthis sind eine Rebellenbewegung wie die Hamas, die von einem Staat aus operiert, der sie nicht nur beherbergt, sondern tatsächlich „unwillig oder unfähig ist“, ihrem Treiben Einhalt zu gebieten, sie ausrüstet und befähigt, Raketen nach Israel zu schießen. Ähnlich war die Lage beim Angriff auf den Libanon. Legal ist, die Hisbollah zu bekämpfen und zu entwaffnen, auch durch Angriffe auf den Staat, von dem aus sie angreift. Die Hamas hat nie von Katar aus angegriffen. Grenzwertig war der Angriff auf die iranischen Atomanlagen, denn man muss sich juristisch schon sehr verrenken, um darin eine Fortsetzung eines israelisch-iranischen Krieges zu sehen statt eines Bruchs des UN-Gewaltverbots. Die US-Luftschläge gegen den Iran waren dagegen vollkommen illegal, weder waren die USA im Krieg mit dem Iran, noch hatte der sie angegriffen, noch drohte ein unmittelbarer und direkter Angriff des Iran auf die USA oder Israel. Trotzdem rechtfertigte ihn Trump damals auch als „kollektive Selbstverteidigung“ nach der UN-Charta.
Völkerrecht ist nicht das Maß aller Dinge
Unsere Debatte krankt auch daran, dass in Bezug auf den Nahen Osten alle das Völkerrecht wie eine Hostie vor sich hertragen, als sei es der einzige gültige Maßstab für Politik. Das kommt vermutlich daher, dass die gesamte Debatte darüber mit dem russischen Angriff auf die Ukraine begonnen hat und da völkerrechtlich die Welt noch in Ordnung war: Nicht einmal Russland hat versucht, sein Verhalten in der Ukraine völkerrechtlich zu rechtfertigen, ignoriert IGH-Klagen und Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und kündigt eine Menschenrechtskonvention nach der anderen. Also halten wir, der Westen, die Demokratien, das Völkerrecht ganz, ganz hoch.
Das Ergebnis: Friedrich Merz bezeichnet Putin als „den vielleicht größten Kriegsverbrecher unserer Zeit“, vermutlich, weil er vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zahlreicher Kriegsverbrechen angeklagt wird. Das wird Netanjahu auch, aber den würde Merz ja nicht an den IStGH ausliefern, käme er nach Deutschland. Und beleidigen will er ihn wohl auch nicht. Ganz am Rande sei erwähnt, dass Putins Krieg in der Ukraine bisher (in Prozent der Einwohnerzahl) weit weniger zivile Opfer gefordert hat als der Krieg Israels im Gaza-Streifen nach offiziellen israelischen Angaben. Das ist nicht Putins Verdienst und auch nicht nur Netanjahus Schuld – aber es zeigt, dass Merz ein wenig der moralische Kompass verrutscht ist. Die weitaus schlimmsten Kriegsverbrecher „unserer Zeit“ (was immer das ist), sitzen übrigens in der Führung der Rapid Support Forces im Sudan, wo seit zwei Jahren (proportional und absolut) die meisten Zivilisten umgebracht und vertrieben werden.
Die Chronik eines angekündigten Todes
Die regelbasierte Ordnung, die jede Bundesregierung bisher hochgehalten hat, ist eigentlich mausetot. Diktaturen und Supermächte haben sich ohnehin kaum an sie gehalten, aber jetzt erodiert sie auch rapide in den westlichen Demokratien, die sich (noch) rechtsstaatlich geben. Man sieht das an einem Vergleich: Die britische und amerikanische Regierung fabrizierten Beweise über angebliche Massenvernichtungswaffen des Irak, um dort einmarschieren zu können. Das war nicht die feine englische Art, aber dahinter steckte das Gefühl, „irgendwie“ müsse man eine solche Invasion juristisch begründen können – mit einem UN-Sicherheitsratsmandat zur Entwaffnung des Irak, gegen das der Irak (so die Behauptung) verstoßen habe. Auf die Idee, Saddam Hussein einfach zu einem gefährlichen Terroristen zu erklären oder zu behaupten, er habe die USA oder einen ihrer Verbündeten angreifen wollen, kam damals niemand.
Die Erosion des Völkerrechts als Handlungsmaxime kann man aber unterschwellig selbst in den Ländern beobachten, die es bisher immer hochgehalten haben. Entscheidet sich nämlich ein Land dafür, sich oder einen Verbündeten militärisch zu verteidigen, muss es nach der UN-Charta sofort den UNO-Sicherheitsrat verständigen. Für UNO-Mitglieder gilt das Selbstverteidigungsrecht nämlich nur so lange, wie der Sicherheitsrat nicht imstande ist, den Frieden wieder herzustellen. Eine solche Meldung haben die USA und Großbritannien bisher immer nach militärischen Interventionen gegen Miliz-Basen in Syrien, dem Irak und Jemen gemacht. Aber weder nach dem Luftschlag der USA in der Karibik, noch nach Israels Angriff auf Doha und den Luftschlägen gegen das iranische Atomprogramm gab es ähnliches. Die Bundesregierung beruft sich zwar seit 2022 auch auf Artikel 51, wenn es um die Ukraine-Hilfe geht, aber dem Sicherheitsrat gemeldet hat sie das nicht.