Was als Kontrollverlust an den Grenzen begann, ist inzwischen eine der grossen Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik. Unter der deutschen Hybris leidet der Kontinent bis heute.
Politik ohne Fehler gibt es nicht. Gute Politiker wissen das und steuern nach; schlechte geraten umso tiefer ins Schlamassel, je mehr sie die unbeabsichtigten Konsequenzen ihres Tuns ausser acht lassen. Die Flüchtlingskrise von 2015 ist ein Beispiel hierfür.
Als Angela Merkel vor der Völkerwanderung kapitulierte und sich die Notaufnahmestellen mit verzweifelten Menschen füllten, wollten die Deutschen helfen. Das war kein «Gutmenschentum», sondern echte und spontane Humanität. Doch man ignorierte die Folgen.
Die für Europa gravierendste Auswirkung der unbedachten Hilfsbereitschaft ist der faktische Zusammenbruch der Schengen-Regeln. Grenzenlose Reisefreiheit existiert allenfalls noch an Flughäfen. Den Landverkehr stauen Grenzkontrollen, die es von Rechts wegen gar nicht geben dürfte. Sie haben sich als Dauerprovisorium und Notwehr gegen die unkontrollierte Einwanderung etabliert.
Was die EU-Gegnerin Marine Le Pen nicht schaffte, was die nationalistischen Parteien in Dänemark, den Niederlanden, in Schweden und der Schweiz nicht schafften, gelang der Europäerin Merkel. Indem sie Grenzen offen hielt, wo deren Schliessung geboten gewesen wäre, zerstörte sie die im Alltag bedeutendste Errungenschaft der europäischen Einigung: den Kontinent ohne Schlagbäume.
Heute sind die Grenzen fühlbarer denn je. Vor zehn Jahren widersprach kaum ein Deutscher der dümmlichen Behauptung, Grenzen liessen sich in der globalisierten Welt nicht schützen. Jetzt beweist Merkels Nachfolger Friedrich Merz das Gegenteil.
Die Flüchtlingskrise von 2015 hat viele Konsequenzen. Staatspolitisch wirkt sich am meisten die Erfahrung aus, dass die Regierung die Kontrolle verlor – und das ausgerechnet im staatsgläubigen Deutschland. Die Erfahrung des Kontrollverlusts hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Sie führt der AfD zuverlässig Wähler zu, obwohl die irreguläre Migration stark zurückgeht.
«Take back control» lautete nicht zufällig der Slogan der Brexit-Anhänger. Hätten die Briten nicht den Zusammenbruch der Ordnung an den deutschen Grenzen gesehen, wäre das Referendum vielleicht anders ausgegangen. Deutschland hat nicht zum ersten Mal den Kontinent umgepflügt. Diesmal ohne Panzer und Kanonen, sondern mit überschwänglicher Humanität, die bald in Hybris umschlug.
Das hat auch Deutschland selbst verändert. Der massenweise Zustrom homogener Gruppen – 1,2 Millionen Asylbewerber in nur zwei Jahren – kennt in der Geschichte nur eine Entsprechung: in Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. Damals kamen Ostpreussen und Schlesier. Nun Syrer und Afghanen aus einer patriarchalischen und islamistischen Kultur, die dem weichgespülten Säkularismus in Europa diametral entgegengesetzt ist.
Obwohl bei Kriegsende «nur» Deutsche in Deutschland aufgenommen werden mussten, dauerte ihre Integration lange. Politisch zog sie sich bis in die achtziger Jahre hin («Schlesien bleibt unser»).
Wie lange wird die Integration der Syrer und Afghanen dauern? Natürlich werden die Deutschen auch das schaffen. Zumal Integration nie scheitert im Sinn eines fatalen und finalen Versagens. Sie erstreckt sich über Generationen, sie ist gekennzeichnet von Rückschlägen, von kleineren und grösseren Katastrophen. Sie fordert einen Preis, mental und materiell. Zwar arbeiten die meisten männlichen Flüchtlinge inzwischen, aber in schlechtbezahlten Jobs. Die Sozialhilfe ist nie weit entfernt. Solche Migration ist ein Minusgeschäft.
Der Preis besteht auch in der Entfremdung der Deutschen von ihrem Land. Sie äussert sich in einer Stimmung, die deutlich schlechter ist als die Lage. Ein Kommentator der «FAZ» nennt seine Landsleute mürrisch und attestiert ihnen wenig charmant, sie verhielten sich wie «Ekel Alfred».
Man muss die Deutschen vor ihren Journalisten in Schutz nehmen. Sie sind keine Ekel. Aber die Begleiterscheinungen der Integration hinterlassen Spuren in der kollektiven Psyche. Dazu gehören nicht nur Messerangriffe, Terrorismus und der Anstieg von Vergewaltigungen, die so viele Schlagzeilen machen.
Dazu gehört auch, wenn eine Flüchtlingsunterkunft in ein Dorf gepfercht wird, das weniger Menschen zählt als die geplante Einrichtung. Die Entfremdung findet hier ganz leise statt.
Ist das noch mein Land? Das fragen sich vor allem die Ostdeutschen, von denen einige noch damit beschäftigt sind, in ihrer Heimat Bundesrepublik anzukommen. Die Entfremdung erleben auch Westdeutsche, die den Slogan «Refugees welcome» nach wie vor für richtig halten. Sie wenden ihn nur nicht auf Rumänen an, die als moderne Sklaven Sozialhilfe für kriminelle Banden ergaunern müssen.
Über Deutschland ergoss sich im vergangenen Jahrzehnt eine wahre Flutwelle, zu der Armutsmigranten aus den östlichen Ländern der EU genauso gehören wie Ukrainer. Nimmt man alle Formen von legaler und illegaler Einwanderung zusammen, kamen allein in den beiden Rekordjahren 2022 und 2023 4,6 Millionen Menschen.
Zu viel ist zu viel. Wer dagegen aufbegehrt, ist nicht fremdenfeindlich. Er hat sich nur den Sinn für Mass und Mitte bewahrt, der in der Berliner Bubble längstens abhandengekommen ist.
Man kann es schaffen und doch daran verzweifeln. Die letzten Jahre haben die Deutschen Kraft gekostet. Sie sind keine Miesepeter, denen es (wie ihnen die «FAZ» vorwirft) an Dankbarkeit dafür fehlt, dass ihr Gesundheitssystem besser ist als jenes in Afrika. Sie sind nur müde von Ausnahmezustand und Überforderung.
Vor einer Dekade, als die Euro-Krise ihren Höhepunkt erreichte und andere Staaten auf Hilfe angewiesen waren, strotzte Deutschland vor Selbstbewusstsein und Stärke. Davon ist nichts mehr zu spüren.
Wieder einmal fällt das Land von einem Extrem ins andere: vom Hegemonen zum kranken Mann Europas – oder wenigstens einem zutiefst verunsicherten.
Entfremdung und Erschöpfung. Das ist eine ernüchternde, aber nicht hoffnungslose Bilanz. Der Gemütszustand wird verstärkt durch die Veränderungen in der Politik, wo zusehends Schreihälse den Ton angeben: natürlich die AfD, aber genauso ihre Gegner. Messermädchen! Systemparteien! Brandmauer! Faschisten! Kampfbegriffe usurpieren den öffentlichen Raum.
Die Nationalisten beherrschen das Spiel der Provokation perfekt. Schön langsam, gleichsam zum Mitschreiben sagt Alice Weidel «Re-mi-gra-tion» und grinst triumphierend. Die Anständigen und alle, die sich dafür halten, tun ihr den Gefallen und sind empört.
Noch immer gibt es genügend Zeitgenossen, die mit der Unterteilung in Faschisten und Antifaschisten nichts anfangen können – weil sie liberal sind oder konservativ; oder auch nur, weil sie Grautönen den Vorzug geben vor Schwarz und Weiss. Das wird ihnen dann ausgelegt als Komplizentum mit Faschisten.
Die politische Neurasthenie sorgt dafür, dass die wirklich wichtigen Dinge aus dem Blick geraten. Über Remigration wird inbrünstig gestritten. Darüber, dass Deutschland in eine wirtschaftliche Dauermisere abzugleiten droht, hingegen kaum.
Seit 2019 stagniert Deutschland. Erstmals seit zehn Jahren liegt die Arbeitslosigkeit wieder bei 3 Millionen. Wer kann, produziert im Ausland, wo die Lohnnebenkosten nicht stracks gegen 50 Prozent streben. Die Warnzeichen sind da, aber zu wenige wollen sie sehen.
In den neunziger Jahren, als der Sozialstaat die Schmerzen der Wiedervereinigung mit Abermilliarden zu betäuben versuchte, hiess es irgendwann: Ein Ruck müsse durchs Land gehen. Mit den Hartz-Reformen zogen sich die Deutschen dann selbst am Schopf aus dem Sumpf; so wie sie dies bereits in den achtziger Jahren getan hatten, nach dem Ölpreisschock und dem Ende des Wirtschaftswunders.
Die Voraussetzungen hierfür sind heute nicht schlechter als damals. Die industrielle Basis ist intakt und die Innovationskraft ungebrochen. Nichts sollte die Deutschen daran hindern, sich erneut zu retten und alle Kritiker Lügen zu strafen. Doch scheint ein ausgelaugtes Deutschland die Kraft dazu verloren zu haben. Vielleicht ist das die folgenreichste der vielen unbeabsichtigten Nebenwirkungen von 2015.
Das Land ist gereizt und zugleich erstarrt. Die Gräben zwischen den politischen Lagern sind so tief, dass Kompromissbereitschaft schnell in den Ruch der Gesinnungslosigkeit gerät. Finis Germaniae. Die Warnungen vor dem Niedergang Deutschlands sind älter als der deutsche Staat selbst. Sie trafen nie ein. Selten stiessen sie allerdings auf so taube Ohren wie heute.